Ostdeutsche Mitbestimmung im historischen Wandel (MiWO)

Basisinformationen:
Projektbeschreibung:

Das Projektvorhaben erforscht die Austauschbeziehungen zwischen Management und Betriebsräten in ostdeutschen Industriebetrieben im historischen Zeitverlauf zwischen 1992/93 und heute. Es geht um die sequenzielle Rekonstruktion und Identifikation typischer Entwicklungsmuster von Mitbestimmung in Ostdeutschland seit der Wendezeit bis heute – und die Wahrnehmung derselben durch die betrieblichen Akteur*innen. Sowohl Kontinuitätslinien als auch Bruchstellen mitbestimmungspolitischer Handlungs- und Deutungsmuster sollen im Kontext der wechselvollen ökonomischen und politischen Geschichte Ostdeutschlands analysiert werden. Im Fokus steht zudem das „Geschichtsbild“ heutiger Akteur*innen.

Es wird eine Follow-up-Studie in ostdeutschen Betrieben der Metall- und Elektroindustrie vorgeschlagen, in denen 1993 und 1994 ausführliche Interviews mit Betriebsrats- und ManagementvertreterInnen zur Etablierung der Mitbestimmung in Ostdeutschland und Transformation des Systems industrieller Beziehungen geführt wurden, die für eine Sekundäranalyse zur Verfügung stehen. 25 Jahre später sollen diese Betriebe (sofern sie noch existieren) erneut aufgesucht werden, um die aktuelle Mitbestimmungssituation zu eruieren und mit betrieblichen Akteur*innen die folgenden Fragen zu diskutieren:

Welche Rolle spielten die mitbestimmungspolitischen Entscheidungen und gewerkschaftlichen Mobilisierungsprozesse der Wendezeit für die weitere betriebliche Entwicklung? Wie war die Gewerkschaftstradition des Betriebs zur Wendezeit? Welche Mitbestimmungskulturen existieren heute in den Betrieben? Wie haben sich diese historisch entwickelt? Wie werden die Ereignisse in der unmittelbaren Wendezeit und in den ersten Jahren der Transformation heutzutage thematisiert und beurteilt? Was wissen heutige betriebspolitische AkteurInnen noch von „der Geschichte“? Welche Relevanz wird dieser zugemessen? Existieren Pfadabhängigkeiten der Entwicklung und wenn ja, welche?

 

Forschungsfrage

Das Forschungsprojekt geht davon aus, dass die ersten Jahre der ostdeutschen Transformation eine sensible Phase waren, in der wichtige Weichenstellungen für die weitere Entwicklung erfolgten. Dies gilt in ökonomischer Hinsicht, aber auch für die Etablierung des Systems industrieller Beziehungen und den Aufbau bzw. die Transformation betrieblicher Mitbestimmungskulturen. Diese These soll untersucht werden, indem historische Entwicklungsverläufe in etwa zehn Betrieben der Metall- und Elektroindustrie rekonstruiert werden. Die Bedeutung historischer Ereignisse kann dadurch im Licht späterer Entwicklungen und der heutigen Situation evaluiert werden.

Das vorgeschlagene Design einer Follow-up-Studie zur Untersuchung von Dynamiken oder auch Wandlungsmustern von Mitbestimmung hat nicht nur Relevanz für die Transformationsforschung und historische Gewerkschaftsforschung, sondern ist auch von grundsätzlicher Bedeutung für die bundesdeutsche Industrial-Relations-Forschung. Eine ähnliche Studie, die nicht statische „Muster“, sondern typische Wandlungsprozesse von Mitbestimmung untersuchte, wurde in der Vergangenheit lediglich in einem Fall, nämlich von Kotthoff (1994) untersucht – allerdings in einem ökonomisch sowie historisch deutlich anderen Terrain (Süddeutschland der 1980er Jahre). Die geplante Studie zum historischen Wandel von Mitbestimmung in Ostdeutschland unterscheidet sich zudem auch in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht von Kotthoffs klassischer Studie. Sie wird mit dem Konzept der „politischen Kultur innerbetrieblicher Austauschbeziehungen“ arbeiten (Bosch et al. 1999; Artus et al. 2001) und dieses mit Elementen des akteurszentrierten Institutionalismus (Thelen/Streeck 1995) verknüpfen.

 

Methodisches Design

Im Rahmen eines Forschungsprojekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurden 1993/94 in 27 Betrieben der Metall- Elektro und Stahlindustrie in den neuen Bundesländern Brandenburg, (Ost)Berlin, Thüringen und Sachsen insgesamt 115 i.d.R. ein- bis zweistündige Interviews durchgeführt, darunter 58 Interviews mit Mitgliedern der Geschäftsleitung und 57 Interviews mit Betriebsratsmitgliedern. Die Betriebe verteilten sich damals auf unterschiedliche Betriebsgrößenklassen (hatten jedoch alle über 100 Beschäftigte) und Eigentumsformen (Neugründungen, Management-Buy-Out, Treuhandbesitz, Westprivatisierungen). Die Interviews wurden auf Tonband mitgeschnitten, teiltranskribiert und im Rahmen ausführlicher Protokolle dokumentiert. Ein großer Teil des damals erhobenen Datenmaterials steht der Antragstellerin zur Sekundärauswertung zur Verfügung, da sie als wissenschaftliche Angestellte damals an den empirischen Erhebungen – v.a. in Thüringen und Sachsen – beteiligt war. Zu weiteren Mitarbeiter*innen des damaligen Projekts (Renate Liebold) sowie zu den Projektleiter*innen (Karin Lohr, Rudi Schmidt) existieren nach wie vor enge Arbeitskontakte, so dass ein guter Zugang zum historischen Datenmaterial gesichert ist.

Im Rahmen des beantragten Forschungsprojekts soll zunächst das betriebliche „Schicksal“ aller 27 ehemaligen Untersuchungsbetriebe geklärt werden. Anschließend werden etwa zehn Betriebe ausgewählt, in denen erneut Interviews durchgeführt werden. Geplant ist mindestens je ein ausführliches qualitatives Leitfadeninterview mit Management- und Betriebsratsvertreter*innen, das sich aus Gründen der Vergleichbarkeit inhaltlich u.a. am Leitfaden der Vorgängeruntersuchung orientiert.  Wo möglich, soll zudem mit Aktivist*innen aus der Wendezeit gesprochen werden. Auch Gruppendiskussionen mit Beschäftigten, die das kollektive Geschichtsbild zum Thema haben, sind (zumindest in einigen Fällen) denkbar und wünschbar. Ergänzend werden betriebliche Dokumente gesammelt und aufbereitet, um die betrieblichen Mitbestimmungsgeschichten im historischen Verlauf zu rekonstruieren.

 

Art und Reichweite der zu erwartenden Ergebnisse

Das Forschungsprojekt wird die folgenden Ergebnisse liefern:

  • Einen Beitrag zur Geschichte der Mitbestimmung und Gewerkschaftsbewegung in Ostdeutschland: Die qualitative Längsschnitterhebung betrieblicher Deutungsmuster von Interessenpolitik ermöglicht nicht nur einen Vergleich zwischen den historischen Situationen zu zwei Erhebungszeitpunkten (1993/94 und 2021/22), sondern – anhand von narrativen Erinnerungen sowie betrieblichen Dokumenten – auch die Rekonstruktion typischer „Entwicklungswege“. Die Bedeutung der frühen Transformationsperiode, aber auch historische Ereignisse, die von übergreifender Relevanz für das kollektive Gedächtnis der ostdeutschen Gewerkschaftsbewegung sind (z.B. die konflikthafte Tarifrunde 1993, der Arbeitskampf 2003) können in ihrer Bedeutung retrospektiv evaluiert werden.
  • Einen Beitrag zur Transformationsforschung: Das westdeutsche Institutionensystem industrieller Beziehungen wurde formal nahezu 1:1 auf die ostdeutschen Bundesländer übertragen. Trotz identischer rechtlicher Bedingungen und einheitlicher gesamtdeutscher Verbändestrukturen blieb die ostdeutsche Institutionenpraxis (z.B. Modi der Betriebsratspolitik und Tarifpolitik) lange Zeit anders als in Westdeutschland – und in Teilen defizitär (z.B. Krise des Flächentarifvertrags). Das Projekt wird den „Stand der Einheit“ rund 30 Jahre nach der Wende eruieren und Hinweise auf Ursachen für anhaltende Verschiedenheiten geben.
  • Einen Beitrag zur Theorie industrieller Beziehungen: In der Theorie industrieller Beziehungen sind unterschiedliche Mitbestimmungsmuster mittlerweile gut erforscht, es gibt jedoch kaum Analysen zu institutionellen Dynamiken. Indem das Projekt typische Wandlungsmuster betrieblicher Mitbestimmungskulturen (in Ostdeutschland) untersucht, wird es nicht nur einen empirischen Beitrag zur Entwicklung von Mitbestimmung in Deutschland leisten, sondern auch einen theoretischen Beitrag zur Konzeptualisierung von institutionellem Wandel im Bereich der Mitbestimmung.

 

Aktuelle Publikationen des Projekts:

Artus, Ingrid / Fischer, Andreas / Gellenthien, Tobias / Holland, Judith / Whittall, Michael (2023). Ostdeutsche Mitbestimmung revisited. Betriebsräte 30 Jahre nach der „Wende“. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 212 53 (3), S. 493-514.

Artus, Ingrid / Fischer, Andreas / Holland, Judith / Whittall, Michael (2023). Im Osten was Neues? Tarifpolitische Strategien der IG Metall in Ostdeutschland. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 211 53 (2), S. 245-266.

Whittall, Michael / Artus, Ingrid / Fischer, Andreas / Holland, Judith (2023). Les stratégies d’IG Metall en matière de négociation collective: á l’est, rien de nouveau? Chronique internationale de l’IRES No 183, S. 67-83.

 

Beteiligte Personen:

Prof. Dr. Ingrid Artus

Dr. Judith Holland

Dr. Andreas Fischer

 

Hilfskräfte:

Selin Aktas, BA

Tobias Gellenthien, BA

Hanna Wanke

 

Ehemals beteiligte Personen:

Michael Whittall, PhD