Nachruf im Gedenken an Michael von Engelhardt
Unser Kollege Michael v. Engelhardt ist zu unserer aller Bestürzung am 13.10.2023 völlig überraschend verstorben. Nach dem Studium der Soziologie, Politischen Wissenschaft, Philosophie und Pädagogik an den Universitäten Tübingen und Göttingen und nach seiner Beschäftigung als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen war er zum Wintersemester 1983/84 an die FAU berufen worden und wurde hier 2008 nach erfolgreichen Jahren am Institut für Soziologie in den Ruhestand verabschiedet. Aber auch danach hat er noch regelmäßig am Institut Aufgaben übernommen, etwa im Rahmen der Verleihung des IPRAS-Preises für die besten Qualifikationsarbeiten eines Jahres, und er hat insbesondere weiterhin gelehrt; auch zum laufenden WS 2023/24 hatte er ein Seminar angekündigt.
Michael v. Engelhardt war 1983 an der FAU auf eine Professur berufen worden, deren zentrale Aufgabe die Vertretung der Soziologie an der damaligen Erziehungswissenschaftlichen Fakultät in Nürnberg war. Das Institut war dankbar, nun jemanden zu haben, der von Amts wegen für die soziologische Ausbildung zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer zuständig war – und der diese Verantwortung ernst nahm! Und Michael v. Engelhardt, der 1980 in Göttingen mit einer Arbeit zu „Lehrerarbeit und Lehrerbewusstsein“ habilitiert hatte, erwies sich als ein Glücksgriff. Neben der Leidenschaft für die Inhalte, die mit der Lehre an der EWF verbunden waren, war es insbesondere auch sein Bewusstsein von der besonderen gesellschaftlichen Bedeutung der Lehrerbildung, das sein außergewöhnliches Engagement begründete.
Michael v. Engelhardt war ein engagierter, begeisterungsfähiger Professor, bei den Studierenden sehr beliebt, zugewandt und im Geiste sehr beweglich. Weil er immer bereit war, etabliertes, auch sein eigenes Denken auf den Prüfstand zu stellen, ist der Funke zur jungen Generation leicht übergesprungen. Die hohe Wertschätzung seiner Lehre resultierte aus seiner profunden Beherrschung des Faches. Diese Kompetenz war mit einem ausgeprägten Interesse für das Lehren selbst verbunden, für den Umgang mit den Studierenden, wobei die ihm eigene Mischung aus Empathie und unbeirrter Sachbezogenheit ein Vorbild für die akademische Lehre darstellt.
Seine Lehrveranstaltungen waren meist überlaufen und die Studierenden haben viel von ihm mitnehmen können. Mit spannenden Seminarthemen wie z.B. „Der Wandel von Freundschaft und Liebe in der Moderne“ oder „Der Wandel von Krankheit und Tod in der Moderne“ vermittelte er den Studierenden die soziologische Perspektive auf soziale Phänomene. Er legte stets Wert darauf, dass in der Lehre auch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in ihrem historischen Bezug adäquate Berücksichtigung erfahren. Die Studierenden sollten lernen, dass sich die Gegenwart nur aus der gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive erklären und verstehen lässt. In den letzten Jahren diskutierte er mit seinen Studierenden vor allem auch aktuelle Fragen und Herausforderungen moderner Gesellschaften – von Migration und Verschwörungstheorien bis hin zu Terrorismus, totalitären Bewegungen und Rassismus.
In seiner Forschung hat ihn insbesondere die Verflechtung von biographischer Entwicklung des einzelnen Menschen mit zentralen gesellschaftlichen Prozessen bewegt. Dies hat ihren Niederschlag in mehreren Forschungsprojekten gefunden, die ein außerordentlich breites Spektrum gesellschaftlicher Bereiche adressierten: von Bildung und Kultur über Jugend und Sozialisation, Medizin und Religion bis zur Untersuchung der Erfahrung von Flucht und Vertreibung. „Biographie, Migration und Identität“, „Biographie und Religion“ oder „Malen und Schreiben in der Biographie“ waren typische Forschungsprojekte, die er am Erlanger Institut für Soziologie bearbeitete; gleichzeitig hat er aber auch praxisorientierte Projekte bearbeitet, wie etwa das über „Patientenversorgung und Arbeit im Krankenhaus“. Die gemeinsame Klammer aller dieser Projekte war stets die methodologische Grundlegung und das methodische Vorgehen, die fest im qualitativen Paradigma verankert waren.
Die Zusammenarbeit mit Michael v. Engelhardt in der Projektarbeit, in der Lehre oder im Rahmen der Promotion haben alle Mitarbeiter*innen bzw. zu Betreuenden nicht nur hochgeschätzt, sondern sie stets auch persönlich und fachlich als ausgesprochen inspirierend und bereichernd empfunden. Michael v. Engelhardt zeichnete nicht nur die Fähigkeit aus, Gelassenheit und Humor auch in „hektischen“ Phasen zu bewahren, sondern wichtige Impulse für die weitere wissenschaftliche Arbeit zu gegeben. Indem er wissenschaftliche Trends und Dogmen immer kritisch betrachtet hat, war er auch in dieser Hinsicht ein wichtiges Vorbild. Wer immer Michael v. Engelhardt um Rat bat – für eine Dissertation, eine Habilitation oder ein Forschungsvorhaben –, fand in ihm einen interessierten, sachkundigen und anregenden Gesprächspartner.
Er wurde auch deshalb hochgeachtet, da er sich nicht nur für die wissenschaftliche Arbeit seiner Mitarbeiterenden interessiert hat, sondern auch an den persönlichen Krisen und Höhepunkten ihres Lebens Anteil genommen hat und ihnen stets zur Seite stand.
Sein großes Interesse an Kunst und Kultur im Allgemeinen, an Malerei, Literatur und Theater im Besonderen fand seinen Niederschlag in zahlreichen langjährigen Aktivitäten: So war er etwa 2005 Gründungsmitglied des „Interdisziplinären Zentrums für Ästhetische Bildung“ (IZÄB) der FAU und ab 2007 auch Vorsitzender des Fördervereins Theater Erlangen e.V.; in dieser Funktion hat er sich u.a. mit zahlreichen Veranstaltungen stark in die Erlanger Zivilgesellschaft eingebracht.
In der akademischen Selbstverwaltung hat sich Michael v. Engelhardt außerordentlich für das Institut engagiert. Er war um 1993 und um 2008 geschäftsführender Vorstand des Instituts, zu einer Zeit als das Institut vor wichtigen Weichenstellungen stand. Es war mit Verlagerungs- und Kürzungsplänen sowie mit der Sicherung des Erhalts bzw. der Neubesetzung von Professuren konfrontiert. Diese Aufgaben hat er mit ganzer Kraft und großem Erfolg bewältigt. Das Institut war und ist ihm hierfür außerordentlich dankbar.
Selten gibt es Menschen, die in ihrer Art zu denken so jung geblieben sind wie er. Selten sah man jemanden mit so viel Begeisterung einem Problem gedanklich auf den Grund gehen. Er war ein hoch-intellektueller, warmer, herzlicher und feinsinniger Gesprächspartner und Freund, den wir sehr vermissen werden